Wie lassen sich Chorsänger schützen?

Zitiert aus NZZ vom 11.5.2020, Marcus Stäbler

Tausende Profi- und Laienchöre hoffen, dass gemeinsames Singen ohne Gefährdung bald wieder möglich ist. Doch die Fakten sind widersprüchlich

Gemeinsam Singen gehört zu den tiefsten Erfahrungen des Menschseins – weil es im Verschmelzen der Stimmen ein Gefühl von Geborgenheit und Nähe erzeugen kann, das weit über das Musikmachen hinausgeht. Doch genau diese Nähe wird in Zeiten von Covid-19 zum Handicap. Das zeigt der Blick auf bemerkenswert ähnliche Verbreitungscluster des Coronavirus bei einigen Chören.

So waren nach Proben und einer Aufführung von Bachs Johannes-Passion im Concertgebouw Amsterdam am 8. März 102 von 130 Mitgliedern von Het Amsterdams Gemengd Koor mit dem Coronavirus infiziert und entwickelten in der Folge teilweise schwere Krankheitsverläufe, denen am Ende vier Choristen erlagen. In der Nähe von Seattle – die NZZ berichtete – starben zwei Sänger des Skagit Valley Chorale; bei einer Probe am 10. März hatten sich insgesamt 45 von 60 Sängern mit dem Virus angesteckt. Nach einer Probe der Berliner Domkantorei am 9. März wiesen 60 von 80 Teilnehmern Symptome auf, unter ihnen auch der Kantor und die Korrepetitorin, die bei der Probenarbeit naturgemäss einige Meter Abstand zur Gruppe der Choristen gehalten hatten. Auch aus dem niedersächsischen Stade, dem bayrischen Hohenberg und dem französischen Hombourg-Haut wurden vergleichbare Fälle bekannt.

Eine so auffällige Ballung von verwandten Verläufen dürfte kaum Zufall sein. Die sozusagen nestwarme Situation in Chören hat offenbar die Verbreitung des Coronavirus begünstigt.

Die Kerze brennt weiter

Ist Chorsingen in Zeiten von Corona also tatsächlich besonders riskant? Wo und wie genau erfolgte die Übertragung? Reichten die in einigen Fällen bereits eingehaltenen Abstandsregeln nicht aus? Die Forschung steht auch hier noch am Anfang. Aber es gibt bereits erste Untersuchungen, weitere Studien sind angekündigt. Christian Kähler, Professor für Strömungsmechanik und Aerodynamik an der Universität der Bundeswehr München, hat am 7. Mai Resultate einer Testreihe zur Ausbreitung von Tröpfchen und Schwebeteilchen in der Luft, den Aerosolen, bei Instrumenten und Stimmen veröffentlicht und auch mit einem Video auf Youtube veranschaulicht. Bereits am 5. Mai hatten die Bamberger Symphoniker einen ähnlichen Versuch unternommen, in Kooperation mit dem Freiburger Institut für Musikermedizin (FIM).

Beide Experimente kommen zum Schluss, dass die Luft durch Blasinstrumente oder Gesang nur innerhalb eines sehr begrenzten Bereichs messbar verwirbelt wird. Sie bestätigen also die Beobachtung jenes klassischen Tests mit einer brennenden Kerze, die vor dem Schalltrichter einer Trompete oder dem geöffneten Mund eines aktiv Singenden kaum ins Flackern gerät. Die Reichweite des von Sängern ausgehenden Luftstroms beträgt etwa einen halben Meter. Aus diesem Messresultat leitet Kähler ab, dass ein Sicherheitsabstand von 1,5 Metern und eine versetzte Aufstellung ausreichen müssten, um Infektionen selbst beim Husten zu vermeiden. Auch das FIM veränderte inzwischen seine Risikoeinschätzung vom 25. April, in der noch grundsätzlich vom Chorsingen abgeraten wurde; es empfiehlt seit 6. Mai einen Abstand von zwei Metern.

Gefahrenquelle Aerosol?

Auch die Möglichkeit, dass besonders leichte Schwebeteilchen aus der Atemluft sich längerfristig in einem geschlossenen Raum halten und sich zu Aerosolwolken verdichten könnten, wird nicht eigens untersucht und nur mit dem grundsätzlichen Appell bedacht, für eine möglichst gute und richtige Belüftung zu sorgen. Namentlich die potenzielle Gefahr durch langlebige Aerosole ist in der Wissenschaft umstritten. Dass sie gleichwohl als Träger von infiziertem Material infrage kommen und womöglich eine Erklärung für eine Reihe von Gruppeninfektionen liefern, legt die Forscherin Shelly Miller aus Colorado nahe. Die Professorin für Mechanical and Environmental Engineering beschäftigt sich schon länger aus der Perspektive der Umweltwissenschaft mit Aerosolen; sie verweist auf die hohe Zahl von Covid-19-Infektionen in geschlossenen Räumen.

So liess sich in China nur einer von 314 dokumentierten Ausbrüchen auf eine Ansteckung in freier Luft zurückführen. Japanische Forscher schätzen die Wahrscheinlichkeit, sich innerhalb eines Raumes anzustecken, als zwanzig Mal so hoch ein wie die Wahrscheinlichkeit einer Infektion im Freien. Einen Zusammenhang mit Übertragungswegen durch die Raumluft anzunehmen, erscheint da sehr wohl plausibel.

Gerade weil nicht annähernd gesichert ist, wie viele Aerosolpartikel aus dem Atem einer infizierten Person tatsächlich Viren tragen und wie lange das Virus in dieser Form überlebt, wäre es nötig, diesen Bereich gezielt näher zu erforschen. Auch um sicherzustellen, dass die empfohlenen Abstandsregelungen überhaupt ausreichen, um gemeinsames Singen, ja nur schon den Aufenthalt von grösseren Gruppen in geschlossenen Räumen ohne Gefährdung der Gesundheit zuzulassen.

Beide Testreihen werfen in Methodik und Design einige Fragen auf. Auch fokussieren sie auf die Bewegung der Luft im akuten Moment der Tonproduktion – lediglich ein Teilbereich des komplexen Geschehens; sie ziehen daraus allerdings weitreichende Schlüsse. Nicht berücksichtigt werden hingegen möglicherweise entscheidende Details wie die besondere Aufnahmefähigkeit der Lungen von Sängerinnen und Sängern, die ja während einer Aufführung besonders tief einatmen.

Schreibe einen Kommentar